Österreichische Medizinische Gesellschaft für

NEURALTHERAPIE & REGULATIONSFORSCHUNG

Was ist Neuraltherapie?

Technisch gesehen ist die neuraltherapeutische Behandlung die Applikation kleiner Mengen eines kurzwirksamen Lokalanästhetikums (LA) an speziellen Therapielokalisationen nach eingehender klinischer Analyse.  Unterschieden werden segmentale Techniken wie intrakutane Quaddeln, subkutane Depots, intramuskuläre Infiltrationen inklusive Injektionen in myofasziale Triggerpunkte, Infiltrationen an Bänder und Insertionen, Injektionen an Knochenvorsprünge, Facettengelenke und peri/intraartikuläre Injektionen. Auch die Injektion an den Spinalnerv gehört zu den segmentalen Techniken. Suprasegmentale bzw. systemische Techniken sind Injektionen an vegetative Ganglien, die iv/perivaskuläre Injektion und die Infusion. Die wichtigste Behandlungsform stellt die Injektion in/um störfeldverdächtige Areale dar: Narben, chronisch erkrankte Organe wie Tonsillen oder Nasennebenhöhlen und deren Projektionszonen.

Zum Einsatz kommen im extramuralen Bereich 1% Lidocain und 1% Procain ohne Zusatz von Stabilisatoren, Vasokonstriktoren etc. In bestimmten Indikationen wird Steroid beigemengt (Frozen shoulder, akuter Diskusprolaps,..). Die in vielen Zentren obligate Steroidbeimengung zu allen Injektionen ist unnötig, erhöht das Risiko und ist nicht als neuraltherapeutische Injektion zu bezeichnen. Einige Zentren sind aufgrund der überzeugenden Ergebnisse bereits zur Anwendung der reinen Lokalanästhetika übergegangen.

Die wesentlichen diagnostischen Schritte bestehen aus Anamnese, Inspektion, Palpation, Funktionsprüfung, Differenzialdiagnostik und testparameterkontrollierter Injektion. Ziel des Analysegangs ist das Auflisten segmentaler und suprasegmentaler Störungen und Therapielokalisationen. Dabei gilt das Hauptinteresse dem Aufdecken von sogenannten Störfeldern, die mit dem Syndrom in Beziehung stehen.
Störfelder nennt man Areale, in denen eine subtile chronische Entzündung besteht (Silent Inflammation). Sie sind klinisch nicht bis wenig apparent, emittieren aber permanent schwache Signale, die zu weitreichenden funktionellen Störungen führen können. Die Bezeichnung „Signalinterferenz“ beschreibt diesen Mechanismus.

Indikationen sind sämtliche nozizeptive Schmerzsyndrome und funktionelle Störungen besonders des Bewegungsapparats.

Weiters:

  • Kopfschmerz & Migräne
  • Funktionelle abdominelle Schmerzen, Reizdarmsyndrom
  • Pelvic Pain
  • Perimenstruelle Beschwerden und Schmerzen im Verlauf von Gravidität und Geburtsvorgang
  • Wundheilungsstörungen
  • Chronisch rezidivierende Infekte
  • Dysregulatorische Zustände wie Palpitationen
  • Funktionelle Dyspnoe
  • Indikationen wie Paniksyndrom, Schlaf- oder andere Biorhytmusstörungen und Depression

    Neuraltherapie eignet sich zur Primärversorgung von Akutfällen und zur Differenzialdiagnostik chronischer Leiden. Besonders hervorzuheben ist der kritische Umgang mit Diagnosen wie „somatoforme Störung“, „Fibromyalgie“ etc. In diesen Fällen darf die Diagnose erst nach Ausschluss eines störfeldbedingten Geschehens gestellt werden!

Neuraltherapie kann mit sämtlichen anderen Therapieverfahren kombiniert werden und eignet sich daher gut für ein multimodales Setting. Sie stellt im Rahmen der Schmerztherapie eine kausale Methode dar, dh. es können in einigen Fällen Ursachenfindung betrieben und Syndrome wirksam eliminiert werden! NT kann auch adjuvant und palliativ eingesetzt werden. Aufgrund der stimmungsaufhellenden Wirkung und Verbesserung der Vigilanz verbessern sich durch die Behandlung oft auch begleitende depressive Symptome oder Stimmungslabilität.

Im den letzten 20 Jahren gewann man eine Fülle neuer Erkenntnisse über die nicht-lokalanästhetischen Wirkungen von LA (4), aber auch über die Genese und Mechanismen von Schmerzentstehung und Chronifizierung. So sind Schmerz und (minimale) Entzündung nicht zu trennen, viele Effekte der Therapeutischen Lokalanästhesie lassen sich besser über ihre antiinflammatorische Wirkung erklären als über die Anästhesiologische. LA sind potente antiinflammatorische Agentien, die eine physiologische Signalmodulation gestatten und in regulationsmedizinischer Hinsicht den Steroiden überlegen sind: Iteratives Downregulieren von Silent Inflammation- Prozessen.

Zu den wesentlichen Schmerzübertragungsmechanismen zählen aus heutiger Sicht neben der neuronalen Schiene die inflammatorische Reizübertragung (über proinflammatorische Zytokine) sowie mechanische Übertragungswege (Mechanotransduktion via Faszien, Ligamenten, Muskelketten). Dabei ist in all diesen Fällen natürlich das Ergebnis nicht von der neuronalen Leistung zu trennen. Unser Körper verfügt über ein hochsensitives ultravernetztes Abtastsystem, das den gesamten Körper permanent scannt und sämtliche gewonnenen Informationen ständig ins „Netz“ stellt. Daher muss man davon ausgehen, dass Irritationen durch Störfelder systemisch wirken und nicht nur ipsilateral oder in Bezug auf spezielle Regionen. Ebenso stehen sogenannte segmentale Erkrankungen immer in Beziehung zum gesamten Körper und der Persönlichkeit des Patienten. Wenn also die lokale oder segmentale Behandlung nicht den gewünschten Erfolg bringt, sollte an multisegmentale Syndrome gedacht werden und nach Begleitstörungen fern des Locus dolendi gefahndet werden. Und wenn auch das nicht hilft, sollte immer die Frage: störfeldbedingtes Syndrom ja-nein? gestellt werden. In diesem Sinne kann die Neuraltherapie Manualtherapeuten, Osteopathen, physikalischen Medizinern und Orthopäden eine diagnostische Hilfestellung leisten, die geeignet ist, mit geringem Aufwand und Risiko das Behandlungsergebnis zu optimieren.

Erste Hinweise auf systemische Effekte der Injektion von LA ergaben sich schon bald nach der Entdeckung und Synthese von Kokain (1860). Es wurden u. A. Verbesserung der Wundheilung, Linderung rheumatischer Beschwerden, Verbesserung postoperativer Schmerzen nach Regionalanästhesie mit Kokain beobachtet. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die ersten synthetischen LA hergestellt (1905 Novocain, 1930 Tetracain, 1943 Lidocain,…). So konnten die erheblichen Mängel von Kokain (Thermolabilität, vasokonstriktorische Wirkung, Suchtpotenzial) überwunden werden.
Die Neuraltherapie ist untrennbar mit den Namen der Brüder Ferdinand und Walter Huneke verbunden. Der Zufall stand Pate: Huneke hatte 1925 seiner migränekranken Schwester ein procainhaltiges Rheumamittel irrtümlich intravenös statt intramuskulär gespritzt und konnte so ihren Migräneanfall kupieren. Durch weitere Nachbehandlungen heilte er sie dauerhaft.
Der nächste Meilenstein war 1940 die Entdeckung des Störfeldes. Huneke erkannte damals, dass die Schulterschmerzen einer Patientin von einer Osteomyelitisnarbe am Unterschenkel herrührten, nachdem aufgrund einer Behandlung der Narbe mit Lokalanästhetika die Beschwerden schlagartig verschwanden (Entdeckung des „Sekundenphänomens“).
Die erzielten Effekte wurden im zwanzigsten Jahrhundert fast ausschließlich der Behandlung von neuronalen Strukturen zugeschrieben. Daraus entwickelte sich auch die Bezeichnung „Neuraltherapie“. Erst um die Jahrtausendwende wurde begonnen, mechanische und inflammatorische Signalwege ins Konzept aufzunehmen. So konnten Erklärungsschwächen der ursprünglich auf Lokalanästhesie und neuronaler Blockade basierenden Lehre beseitigt werden.